Kategorie: Anekdoten / Künstlergeschichte / Moderne Kunst
Lesezeit: 5 Min
Die Begegnung im Zug nach Osnabrück
Ich hatte gerade einen langen Arbeitstag hinter mir, die letzten Texte über Walker Evans und Oleksandr Bohomazov waren online, und ich saß im Zug von Köln nach Osnabrück. Ich war müde, aber zufrieden, die Deadlines waren eingehalten.
Mir gegenüber saß ein älterer Herr, dessen Blick plötzlich auf meiner Kleidung hängen blieb. Ich trug meine leuchtend rote Steppjacke, die an diesem tristen Dezembertag wohl etwas zu viel Aufmerksamkeit erregte.
Der Herr, der sich später als Klaus, ein pensionierter Maler aus Osnabrück, vorstellte, lächelte und sagte:
„Verzeihen Sie, mein Herr. Diese Jacke… Sie sieht aus, als wären Sie gerade von einem Stierkampf weggelaufen. Der perfekte Torero auf der Heimreise.“
Ich lachte und das Eis war gebrochen. Wir begannen über Kunst zu sprechen, über die Würde des Dokuments von Evans und die Notwendigkeit von roher Energie in der Malerei.
Die Krise und der Stier
Klaus lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee und sagte leise: „Wissen Sie, das führt mich zu einer Geschichte über jemanden, der Blut in der Kunst brauchte. Es war Picasso, 1957 an der Côte d’Azur. Er hatte eine Krise. Er war überzeugt, die Kunst sei zu steril, zu weit vom wahren Leben entfernt – er sagte, sie sei zu weit von der Küche entfernt!“
Ich musste schmunzeln.
„Nun, an diesem Abend lieferte die Küche prompt. Mitten in seiner philosophischen Wut rollte der Koch einen Tisch herein, beladen mit der Hälfte eines frisch geschlachteten Kalbes – für das Abendessen. Für die anderen war es schockierend. Für Picasso? Das war sein Toro, sein Stier.“
Die Kunst des Messers
Klaus machte eine dramatische Pause, bevor er fortfuhr:
„Wissen Sie, was er tat? Er nahm ein Metzgermesser, tauchte es in das auf dem Tisch gesammelte Blut und Fett und begann, direkt auf die Holztischplatte zu zeichnen. Er skizzierte die Umrisse des Kalbes mit Blut – keine Leinwand, keine Pinsel! Es war wild, ursprünglich, eine Minute lange Performance der rohesten Kunst. Er erschuf ein unvergessliches ‘Blutbild’.“
Ich war fasziniert. „Und was war die Reaktion der Gäste?“
Klaus (lächelnd):
„Nachdem der Schock nachließ, fragte ihn jemand, was dieses verrückte Kunstwerk wert sei. Und Picasso, mit einem Lächeln auf den Lippen, antwortete nur: ‘Ein gutes Mittagessen.’ Er hatte sich befreit, seinen Schöpferdrang befriedigt, und das Chaos in der Küche in reine Kunst verwandelt.“
Fazit: Die Küchen-Metapher
Am Ende der Geschichte verstand ich, dass Picasso uns daran erinnerte: Wahre Kunst entsteht, wenn die Theorie (der Kopf) mit dem instinktiven Akt (dem Bauch) kollidiert. Manchmal muss man einfach zur Axt greifen… oder zum blutigen Metzgermesser. Und meine rote Jacke, der Torero-Moment, war der perfekte Schlüssel, um diese wilde Geschichte im Zug nach Hause zu hören.
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