Ernst Barlach: Die Stille des Leidens (Expressionistische Skulptur)

Ernst Barlach: Die Stille des Leidens (Expressionistische Skulptur)

1910–1938: Ernst Barlach. Die Stille des Leidens.

Kategorie: Kunstgeschichte / Expressionismus / Skulptur / Grafiken
Lesezeit: 7 Min


I. Einführung: Der Bildhauer der Seele

Ernst Barlach (1870–1938) war eine zentrale Figur des deutschen Expressionismus, der sich durch seine zutiefst spirituellen und existenzialistischen Werke auszeichnete. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, die sich auf Farbe und psychische Erregung konzentrierten, fand Barlach seinen Ausdruck in der Schwere und der Stille der Form.

Seine Skulpturen, oft aus Holz oder Bronze gefertigt, zeigen Figuren, die in dicke, fließende Gewänder gehüllt sind. Diese Hüllen dienen nicht der Dekoration, sondern als Käfig und Schutzschild für das innere, geistige Drama des Menschen. Barlach schuf keine Porträts der Realität, sondern Archetypen des menschlichen Schicksals: Bettler, Mutter, Mönch, Prophet.

II. Die Begegnung mit der Primitivität: Der Beginn der Form

Eine entscheidende Wende in Barlachs Schaffen markierte seine Reise nach Russland im Jahr 1906. Die Begegnung mit der elementaren, oft leidvollen Lebensweise der russischen Bauern und Bettler, die in einfachen, schweren Mänteln gehüllt waren, beeindruckte ihn tief.

Er erkannte, dass die Reduktion der Form auf das Wesentliche die emotionale und universelle Botschaft verstärkte. Diese Primitivität der Form, verbunden mit der expressiven Kraft des Holzschnitts, wurde zu seinem Markenzeichen. Die schweren, monolithischen Volumen seiner Figuren, die oft nur durch die Bewegung der Hände oder eine Neigung des Kopfes kommunizieren, strahlen eine monumentale, ruhige Verzweiflung aus.

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„Der Mensch auf den Feldern – seine Gestalt ist keine Form, sondern ein Umstand.“

Ernst Barlach (Tagebucheintrag)

III. Der Schwebende: Das Zeugnis des Krieges

Barlachs berühmtestes und ergreifendstes Werk ist Der Schwebende (Güstrower Ehrenmal, 1927). Diese Bronzeplastik, die einen scheinbar schlafenden oder ruhenden, von einem Mantel umhüllten Engel darstellt, wurde zum Kriegsmahnmal.

Der Engel, der mit dem Gesicht nach unten schwebt, ist kein Siegeszeichen, sondern eine Anklage des Schmerzes. Die Gesichtszüge des Engels sind die des Künstlers selbst, was das Werk zu einem persönlichen Zeugnis des Leidens macht. Unter dem Nazi-Regime wurde das Werk 1937 als „entartete Kunst“ diffamiert und eingeschmolzen, was Barlachs Rolle als gewissenhafter Kritiker der Zeitgeschichte unterstreicht.

IV. Das Wort und die Figur: Barlach als Dichter

Barlach war nicht nur ein Bildhauer, sondern auch ein bedeutender dramatischer Dichter. Seine Dramen (wie Der arme Vetter) spiegeln die existenzielle Not seiner Skulpturen wider.

Die Figuren in seinen Stücken suchen oft nach spiritueller Befreiung in einer materiellen Welt. Dieses Wechselspiel zwischen dem geschriebenen Wort und der starren, aber emotional aufgeladenen Skulptur vertieft die Botschaft seiner Kunst: Die menschliche Gestalt ist ein Gefäß für eine endlose innere Konversation zwischen Seele und Schicksal.

V. Fazit: Monument der Innerlichkeit

Ernst Barlach bleibt der Meister der vergeistigten Form. Seine Kunst ist ein stilles, aber kraftvolles Monument der Innerlichkeit, das die universellen Fragen nach Leid, Tod und Hoffnung ohne Pathos stellt. Er zwang den Betrachter, hinter die sichtbare Oberfläche des Körpers zu blicken und die einsame Würde der menschlichen Seele zu erkennen, auch wenn sie von Mantel und Dunkelheit umhüllt ist.

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